R. Fivaz-Silbermann : La fuite en Suisse

Cover
Titel
La fuite en Suisse. Les Juifs à la frontière franco-suisse durant les années de la «Solution finale»,


Autor(en)
Fivaz-Silbermann, Ruth
Erschienen
Paris 2020: Calmann-Lévy
Anzahl Seiten
1448 S.
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Nun liegt die integrale Arbeit vor, die in Teilen bereits vor rund 20 Jahren für Auf sehen gesorgt hat, weil ihre ersten Befunde in herausforderndem Widerspruch zu Feststellungen der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) «Schweiz-Zweiter Weltkrieg» standen. Die Studie verdient es, aus zwei Gründen weiterhin zur Kenntnis genommen zu werden: erstens wegen ihres Ansatzes und zweitens wegen ihres Faktenreichtums. Der eigene Ansatz besteht aus einem auch von der UEK ansatzweise bereits praktizierten Perspektivenwechsel weg vom an sich nicht abwegigen helvetozentrischen Interesse für die von der Schweiz zu verantwortenden Flüchtlingspolitik in eine Blickrichtung, die sich für das Verhalten der Asylsuchenden interessiert. Gefragt wird nach den Fluchtmotiven, nach dem Wissensstand der Flüchtlinge, den Fluchtwegen und Kosten und natürlich auch nach den Fluchthelferinnen und Fluchthelfern sowie den konkreten Erfahrungen während der Flucht. Wegen der hohen Bedeutung der Fluchthelferinnen und Fluchthelfer wäre es wünschenswert gewesen, dass sie nicht nur im Laufe des Narrativs immer wieder erwähnt worden wären, sondern ihnen fokussiert etwas eingehendere Überlegungen gewidmet worden wären.

Zur Kontroverse um die Zahl der Abgewiesenen gibt es nichts neues zu Berichten. Die Verfasserin beharrt auf den Zahlen, die sie den von ihr konsultierten, einzelnen Dossiers entnommen hat: 12675 jüdische Flüchtlinge hätten, aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich kommend, eine Aufnahme erhalten und 1850 seien abgewiesen worden. Von diesen sei (nur) einer auf sechs deportiert worden, nachdem sie ins unbesetzte Frankreich ausgeschafft wurden; bei einer Ausschaffung ins besetzte Frankreich hingegen sei einer auf zwei der Ausgeschafften deportiert worden (S. 21). Die verstreute Einzelangaben werden zusammen mit Karten zum Grenzverlauf und zu Fluchtwegen in einer Tabelle (S. 727) zusammengefasst, verteilt auf die Jahre 1942–1944 und auf die verschiedenen Grenzabschnitte. Wie weit diese Zahlen verallgemeinernde Rückschlüsse auf die ganze Schweiz zulassen, wird nicht diskutiert. Die Autorin setzt sich auch nicht mit den weit höheren Zahlen der UEK und mit deren Art, zu dieser Einschätzung zu gelangen, auseinander. Zu ihrer eigenen Methode gibt sie in ihrem umfangreichen Buch keine Auskünfte, sie verweist nur auf einen früheren Aufsatz in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte. 1

Die umfangreiche Arbeit von rund 1400 Dünndruck-Seiten, 2017 in Genf als Doktorarbeit angenommen, umfasst im Grunde drei Dissertationen: Eine erste, wirklich viel neue Befunde vermittelnde Studie befasst sich mit den Fluchtbewegungen aus den Niederlanden, aus Belgien und den beiden Frankreich (dem besetzten und unbesetzten Teil), inklusive dem oft wenig beachteten, vorübergehend von Italien besetzten Savoyen. Eine zweite Studie ist eine mehrheitlich doch in gehabter Weise «helvetozentrische» Rekapitulation der bereits eingehend erläuterten schweizerischen Flüchtlingspolitik – bloss gegenläufig zu bisherigen Erkenntnissen. Und eine dritte, teils ebenfalls Bekanntes wiederauf nehmende, aber auch bisher unbeachtete gebliebene Netzwerke erfassende Studie befasst sich mit Hilfsaktionen, die die Schweiz als Plattform zur Rettung von jüdischen Kindern aus der französischen Nachbarschaft genutzt haben. Im ersten Teil unterscheidet Fivaz acht verschiedene Motive für die Fluchtversuche nach der Schweiz; wenig bekannt ist das erstgenannte Motiv, via die Schweiz und mit Unterstützung aus der Schweiz zu den Streitkräften der Westalliierten zu gelangen und sich an der Bekämpfung der NS-Herrschaft beteiligen zu wollen (S. 28). Es wird auch zwischen Fluchtrouten unterschieden, die in relativ kurzer Zeit (drei Wochen!) direkt und solchen, die in Etappen und auf Umwegen indirekt an die Schweizer Grenze führten.

Statt leitende Fragestellungen systematisch zu verfolgen, ergehen sich die Ausführungen über weite Strecken in Aneinanderreihungen von Einzelschicksalen. Diese sind, obwohl sie sich in der Regel auf nüchterne Feststellungen beschränken, in ihrer Fülle bedrückend und zeigen die enorme Dimension dieser menschlichen Katastrophe. Die Aufzählung erfüllt eine elementare Funktion historischer Chronik: Sie hält, nun jederzeit abrufbar, gegen das Vergessen fest, was gewesen ist, und ist damit eine Art Ergänzung zu Lanzmanns neunstündigem «Shoa»-Film – allerdings mit dem Unterschied, dass zur integralen Lektüre dieses Bandes ein Mehrfaches an Zeit nötig ist. Ab sofort steht als Produkt der aufwendigen Aktenauswertung ein 39 Seiten umfassendes Register mit Personen- und Ortsnamen zur Verfügung. Es bleibt aber die Aufgabe, in zusätzlichen Schritten eine weitere Synthetisierung vorzunehmen und weitere Schlussfolgerungen zu entwickeln.

Die dichten Tatsachenfeststellungen dienen zumeist nicht der Beantwortung von übergeordneten Fragestellungen und führen darum auch nicht zu entsprechenden Schlussfolgerungen. Der episch ausgebreiteten Dokumentation hätte es gutgetan, wenn, der französischen Wissenschaftskultur entsprechend, Zwischenbilanzen gezogen worden wären. Das Werk schliesst erst ganz am Schluss mit einer schmalen «conclusion». Die verwerteten Dokumente werden zwar ordentlich nachgewiesen, die Verwertung folgt aber keinen expliziten, am Forschungsstand anknüpfenden Fragestellungen und keiner deklarierten Vorgehensweise. Zweifellos bringt der Einbezug nichtschweizerischer Bestände, insbesondere der französischen Präfekturen, eine willkommene Erweiterung der Optik. In dem breit angelegten Werk finden sich aber keine reflektierenden Angaben zur Quellenlage. Das wären vor allem im ersten Teil besonders angebracht gewesen, weil die Auskünfte mehrheitlich auf Zeugnissen beruhen, die in Befragungen / Verhören abgegeben wurden. Dass es angebracht ist, den Quellen eine eigene Aufmerksamkeit entgegenzubringen, zeigen die wenigen Überlegungen zu den antisemitischen Stereotypen in amtlichen Dokumenten (S. 749). Die Arbeit ist solide dokumentiert, die Dokumentation aber nur schwer nachvollziehbar. Der Fussnotenbereich wird für ergänzende Personalangaben genutzt, die Nachweise zu den Quellen müssen auf den S. 1181–1341 herausgesucht werden. Alle deutschsprachigen Zitate werden in französischer Sprache präsentiert, was dem Werk sprachliche Homogenität gibt, aber keinen Direktzugang zum zitierten Original ermöglicht.

Eine Hauptaussage besteht im Hinweis, dass nach der berüchtigten Grenzschliessung vom August 1942 schon bald wieder eine etwas durchlässigere Politik praktiziert werden sei und dass sich die Historiografie bisher zu stark an den Abschreckungserklärungen orientiert und der tatsächlichen Praxis zu wenig Rechnung getragen habe. Nach Meinung der Verfasserin habe die Schweiz durchaus ihre offizielle Abschreckungsdoktrin hochhalten können, zugleich hätte sie aber alle Hilfesuchende uneingeschränkt aufnehmen können und darum aufnehmen müssen. Der abhaltende Filter vor der Ankunft an der Schweizer Grenze sei derart engmaschig gewesen, dass der Schweiz keine «Invasion» gedroht hätte. Nicht nur sei das Boot nicht voll gewesen, es habe auch kein Risiko bestanden, dass es je überfüllt worden und deswegen gekentert wäre.

Fivaz genereller Hang zu Gegendarstellungen zeigt sich unter anderem auch darin, dass nach ihrer Einschätzung entgegen bisheriger Annahmen die restriktive Aufnahmebereitschaft neben der Fremdenfeindlichkeit und dem Antisemitismus auch durch das verständliche Bestreben bestimmt gewesen sei, den «nördlichen Nachbarn» nicht mit einer offeneren Aufnahmepraxis zu provozieren (vgl. etwa S. 632 und 647). Gegenpositionen zur bisher publizierten Literatur und insbesondere zum UEK-Bericht beschränken sich in der Regel jedoch auf kurze Bemerkungen und werden in der Regel nicht weiter ausgeführt (vgl. etwa die Bemerkungen zu Guido Koller, S. 1268).

Der bisher als hauptverantwortlich für die restriktiven Aufnahmepolitik gesehene Polizeichef Rothmund wird für die Zeit nach dem August 1942 als Befürworter einer humanitären Praxis dargestellt. Er habe sich über die zuvor von ihm selbst etablierte Antiüberfremdungsdoktrin hinweggesetzt, weil er diese nur für Friedenszeiten angemessen erachtet habe und nicht für Verhältnisse, die für Hilfsbedürftige lebensgefährlich seien. Fivaz schafft mit ihrer Darstellung einen Kontrast zwischen einer offiziellen allgemein harten Doktrin der Zurückweisung und einer weicheren offiziösen Praxis in Einzelfällen. Weiter wird unterschieden zwischen einer zumeist entgegenkommenden Haltung Rothmunds und der eigenmächtigen Abschiebepraxis von Seiten der Armee und der Grenzwache. Die Autorin versteigt sich zur Aussage, Rothmund erscheine ihr («il nous parait») der Einzige in Bern gewesen zu sein, der sich bemüht habe, die moralische Verpflichtung gegenüber den Asylsuchenden ernst zu nehmen (S. 666). Fivaz bestätigt aber die kritische Beurteilung, die Bundesrat von Steiger bisher erfahren hat, und sie betont mehrfach, dass Stellen des für die Aussenpolitik zuständigen EPD (heute EDA) eine deutlich restriktivere Haltung als die Polizeiabteilung des EJPD eingenommen hätten.

Was bleibt nach absolvierter Lektüre für ein Gesamteindruck, abgesehen davon, dass die enormen Arbeitsleistung Respekt verdient? Es erscheint nicht möglich, sich auf einseitige Generalaussagen festzulegen, weil es, mit zeitlichen Nuancen, stets auch Gegenteiliges gegeben hat. Dazu passt Fivaz Feststellung, dass Aufnahme oder Zurückweisung wie eine Lotterie funktioniert habe (S. 1178). Dass Gegenteiliges zutreffen konnte, findet sich etwa in den Feststellungen, dass Fluchtentscheide in Richtung Schweiz von den verfolgten Juden unabhängig von der konkreten Haltung der Schweiz getroffen worden seien und dass andererseits die Abschreckung («la terrible dissuasion») doch gewirkt, das heisst zu einem Rückgang der Asylanträge geführt habe (S. 608). Ein einigermassen solider, aber nicht quantifizierbarer Gesamteindruck besteht hingegen darin, dass Flüchtlinge recht oft in mehrfachen Anläufen versucht hatten, in die Schweiz zu gelangen. Fivaz’ Schlusswort dürfte breite Zustimmung finden, dass der Name der Schweiz heute mit Respekt ausgesprochen würde, wenn sie trotz offizieller Abschreckungsdoktrin alle Asylsuchenden stillschweigend aufgenommen hätte (S. 1180).

Anmerkungen
1 Ruth Fivaz-Silbermann, Accueil et refoulement des juifs à la frontière franco-suisse durant la guerre: sources et statistiques, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 69/1 (2019), S. 111–130.

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Fivaz-Silbermann, Ruth: La fuite en Suisse. Les Juifs à la frontière franco-suisse durant les années de la «Solution finale», Paris 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 568-570. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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